Leseproben

„Vor uns lag das Meer wie schwarzer Samt, gespannt wie ein Tuch und kaum bewegt, die wie unmerkliche Dünung einen Film aus Silber tragend, die breite, fast blendend helle Spur des Mondes wie einen gewaltigen, hier gewässerten Kometenschweif. Der Weg am Ufer führte immer entlang der Stadtmauer in Richtung eines Pinien-hains am Wasser, vor dem die lange Mole lag, die den kleinen Fischerhafen vom großen Wasser trennte. Niemand war mehr unterwegs, die ganze Stadt schlief längst, die Nacht kaum kühler als der heiße Tag. Hell war es nur durch den Mond auf dem Wasser und zwischen den doch tatsächlich zahllosen Sternen mit allen ihren Bildern, die sämtlich erkennbar waren, und die Fred benennen konnte, der die Hand auf die Schulter des Kindes legte und mit dem Finger seinen Blick auf die helle Venus, den Großen Wagen oder Bären lenkte. Die einzigen Lichter waren die Lampen der Fischer-boote weit draußen, vor dem schwarz auf schwarzen Horizont, die jeden Abend hinaus-fuhren um in jeder Nacht ihre Lichter in der Tiefe dieser Weite hin und her zu bewegen und ihre Dimensionen abzustecken. Beim ersten Schritt vom Weg, hinauf in die Pineta, dufteten die Pinien, deren Nadeln unter den nackten Füßen knackten, ein weicher Teppich mit einzelnen Stacheln, über den wir in blindem Vertrauen tapsten, das Ziel am

 

 

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andern Ende des Hains schon durch sein Glitzern ausgewiesen. Dieses Ziel war die Mole mit ihren gewaltigen Steinbrocken links und rechts der leicht geschwungenen Fläche sanft reliefierter Platten, und die Leiter am Ende. Wie in Vorwegnahme des-sen, was nun käme, wurde in der Truppe nur noch geflüstert, und wir gingen still zwischen dem silber-weißen Lichtvlies auf der linken Seite und dem Dunkel rechts, bis zu der kleinen Leiter, die von der Mole ins Wasser führte. Fred könnte durchaus als erster nackt gewesen sein, und sprang ins Was-ser, das mit seinem Eintauchen plötzlich in sich und seiner Tiefe zu funkeln begann, leuchtende Algen mit einem Scheinen wie Glühwürmchen, das den Schwimmbewegungen folgte, in sanften Krei-seln, Wirbeln, Rhythmen von den Händen und Füßen choreographiert, ein fluoreszierender Tanz wie ein unvergessliches Wunder. Selbst das ängstliche Kind, das ich war, wagte sich in das grünlich funkelnde Schwarz, tauchte den kleinen Leib in das weiche, warme Element, vor Erleben ganz aufgeraut und längst über jede Müdigkeit hinaus. Mit einer Hand an den Steinblöcken hob und senkte sich mein Körper ganz sanft, getragen vom Schwarz. Und plötzlich wurde mir, in dieser letzten Ecke der gewaltigen Fläche des Meeres, hinter der Mole und an ihrem Rand, die Unend-lichkeit bewusst, in der ich da trieb.“ „Novigrad“

 

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„Als wir sechszehn, siebzehn waren, lag unsere Bucht von Westen her gesehen noch am Rand der Welt, und von Osten aus jenseits davon, was wir beides nicht wussten, weil sie für uns die Welt war, die es gab, die einzige, und vollkommen genug davon. Wir ahnten auch nicht, dass unsere Stadt aus der Zeit gefallen war, aus dem Geschehen in den Stillstand getrudelt, von allen Bühnen abgetre-ten, der Vorhang gefallen, und jetzt in den Augen vieler nur noch das bröselnde Behältnis tausender Schimären aus der Vergangenheit war, so voller melancholischer Geschichten wie die Flure eines Künstleraltersheimes. In unseren Augen war sie das Gegenteil: Die strahlende Bühne unseres Werdens, das Areal des Alltags, so fest umrissen, als wäre es eingezäunt, und dabei nur begrenzt von unseren Gewohnhei-ten und Abläufen.“ „Bagno La Lanterna“ „Über uns rauschten die Kronen der Bäume im Wind, und ich konnte nicht ausma-chen, ab welcher Stelle ihr Rauschen mit dem der Wellen zusammenfloss, und ob es von diesem ab einem bestimmten Punkt des Weges nicht über-lagert wurde. Noch ein paar Meter bergab, die auf den Steinen und in den Flipflops Konzentration verlangten, dann tauchte die kleine Calanque auf.

 

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 „Ich hab es doch gesagt“, meinte Agnès, „die Leute reagieren nicht so schnell.“ Wie an der Schnur gezogen steuerten wir den einen Punkt an, der hier der perfekte war, zumindest für uns: Ein Fleck chen, mit einem breiten Kissen aus Piniennadeln, halb unter den Kronen der Nadelgeber, und doch nur ein paar Schritte von dem winzigen Stück Strand entfernt, an dem die hellgrauen, wie geschichteten Felsen, einem sanften Sandeinstieg Platz einräumten. Agnès breitete ihre Stranddecke mit dem Muster aus geometrisch angeordneten Bienen aus, ich daneben noch die alte, halb ver-schlissene Wolldecke aus großen, bunten Schot-tenkaros, die früher bei meinem Vater im Koffer-raum des Peugeot 504 gelegen hatte. Cédric war schon in Badehose, die Füße im Wasser, das immer noch warm sein musste, sonst wäre er nicht so schnell darin verschwunden. Agnès stand leicht vor mir, zog sich gerade ihr Kleid über den Kopf und sah für einen Augenblick aus wie ein großer tauben-blauer Vogel mit braunen Beinen, der seine Flügel hebt. Dann drehte sie sich nach mir um, lächelte und meinte nur: „Na los!“ 

„Der beste Augenblick von allen“ 

 

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